von Dr. rer. physiol. Michael Uebele, ehemals Leitung der Schule für Physiotherapie der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz
Videoanalyse – Unterstützung des evidenzbasierten Arbeitens innerhalb des Clinical-Reasoning-Prozesses
Die Beobachtung des motorischen Verhaltens des Patienten ist neben der Anamnese ein wesentlicher Bestandteil des Clinical-Reasoning-Prozesses (CR-Prozess) in der Physiotherapie.
Die Probleme des Bewegungsapparates offenbaren sich dem geschulten Auge des Therapeuten in Form von Kompensationsmechanismen (gestörten Gliederkettenreaktionen, veränderte myofaziale Reaktionen etc.), die Aufschluss darüber geben, wie das Bewegungssystem auf Anforderungen der Umwelt reagiert. Krankheitsbilder haben ihre Geschichte und diese dokumentieren sich in einer veränderten Motorik, die wiederum Rückschlüsse auf bestimmte Störungsfelder geben.
Die Beobachtung motorischer Funktionsabläufe führt im CR-Prozess zu ersten Hypothesen bezüglich der in Frage kommenden Störungsursachen. Die Hypothesenbildung beeinflusst die Auswahl geeigneter Testverfahren um diese zu überprüfen und um die Evidenz der therapeutischen Interventionen nachzuweisen.
Die Bewegungsbeobachtung bzw. –analyse kann durch Videoaufnahmen erleichtert und optimiert werden.
Die wesentlichen Vorteile der Videoanalyse lassen sich wie folgt begründen:
Videoanalyse in der physiotherapeutischen Praxis
Neben meiner „normalen“, auf ärztlicher Verordnung beruhenden physiotherapeutischen Tätigkeit, biete ich die Bewegungsanalyse als eine zusätzliche physiotherapeutische Leistung an (zweiter Gesundheitsmarkt).
Das Angebot wird hauptsächlich von Hobby- und Wettkampfsportlern in Anspruch genommen, die Probleme während der Ausübung ihres Sportes haben, oder die ihr Training optimieren wollen.
In der nachfolgenden Fallbeschreibung wird dargestellt,
wie die Videoanalyse in den physiotherapeutischen Prozess der Befundaufnahme und der daraus folgenden therapeutischen Interventionen integriert wird.
1. Fallbeschreibung
Es handelt sich um den 64 jährigen Hobbyläufer A.T., der durchschnittlich 3 x die Woche trainiert und einen Trainingsumfang von 40 bis 50 km pro Woche aufweist. Zur Zeit bereitet er sich auf einen Halbmarathon vor, der Ende Mai stattfindet (Altersklasse 65 – 70 Jahre).
Außer Schmerzen am rechten Knie, die während des Laufens zunehmend
auftreten, hat Herr A.T. keine körperlichen Probleme. Er hat allerdings das Gefühl, dass sein Lauf „sich nicht mehr so rund anfühlt“ und daß er „derzeit unter seinen Möglichkeiten läuft“.
Von der Bewegungsanalyse verspricht er sich Aufschluss darüber zu bekommen, ob lauftechnische Defizite
definiert und durch gezielte Trainingsmaßnahmen minimiert bzw. behoben werden können.
Die Laufanalyse wurde auf einem Laufband durchgeführt und mit einer Videokamera
und dem iPad-Set EIDOO aufgenommen und mit dem Videoanalyseprogramm Dartfish 9.0 Pro Suite ausgewertet.
2. Ergebnisse des Sichtbefundes:
Die entscheidenden Kompensationsmechanismen von A.T. zeigen sich sowohl im
„Barfußlaufen“ als auch im Laufen mit den Sportschuhen in der Stoßdämpferphase.
Exkurs: Die Stoßdämpferphase stellt eine entscheidende Phase innerhalb der einzelnen Standphasen dar. In dieser Phase treten hohe Drehmomentkräfte auf (Flexionsdrehmomente des Rumpfes und der Hüfte, Adduktionsdrehmoment des Beckens, Adduktions- und Innenrotationsdrehmomente des Oberschenkels, Eversionsdrehmoment auf den Rückfuß etc.) die muskulär beantwortet werden müssen. Insbesondere in dieser Phase wird die entsprechende Skelettmuskulatur (globale Stabilisatoren) richtungsabhängig in ihrer kon- und exzentrischen Arbeitsweise beansprucht.
Die Stoßdämpferphase der linken unteren Extremität (Sicht von dorsal) zeigt folgende Auffälligkeiten (Video 1 und 2, Schlüsselposition 1/1 und 2/1):
Der nach lateral ausgerichtete Fuß sowie die adduzierte Stellung der unteren Extremität ist ebenfalls in der Stoßdämpferphase der rechten unteren Extremität nachweisbar (Video 1 und 2, Schlüsselposition 1/2 und 2/2).
Auch in dieser Phase wird der linke Arm in der Extensionsphase des Schultergelenkes in deutlich sichtbarer Abduktion gehalten. Im Unterschied zum Barfußlaufen verringert sich jedoch die Adduktion der unteren Extremität (vgl. ebenda).
Die adduzierte Ausrichtung der rechten und linken unteren Extremität wird bis in die Abrollphase beibehalten (Video 1 und 2, Schlüsselpositionen 1/3, 1/4 bzw. 2/3 und 2/4). Im Unterschied zum Barfußlauf verringert sich die Adduktion der jeweiligen unteren Extremität beim Laufen mit Sportschuhen.
In der Seitansicht fällt auf beiden Seiten die relativ geringe Hüftextension in der Endstandphase bzw. Abdruckphase auf, die rechts wie links mit einer „zu starken“ Knieflexion kompensiert wird (vgl. Video 3, Schlüsselposition 3/1 und Video 4 Schlüsselposition 4/1. Weiterhin ist im Seitenvergleich die unterschiedliche Schrittlänge auffällig (Video 3, Schlüsselposition 3/2 und Video 4, Schlüsselposition 4/2).
3. Weitere Befunde und Testergebnisse:
Der Sichtbefund beider Füße in Rückenlage verdeutlicht Defizite in den distalen Fußgewölben. Die „subluxierte“ Stellung im Bereich der Zehengrundgelenke weisen daraufhin, dass die lokalen Stabilisatoren (Mm. lumbricales und interossei) die Grundgelenke nicht mehr optimal stabilisieren und die globalen Stabilisatoren (Zehenflexoren und Zehenextensoren) im Sinne eines Kompensationsmechanismus diese Gliederkette beeinflussen („Schwanenhalsdeformität“) (siehe Bilder 1 und 2).
Bild 1 - abgeflachtes Fußgewölbe links
Bild 2 - abgeflachtes Fußgewölbe rechts
Alle Gelenke der unteren Extremität sind mit Ausnahme der Bewegungen in der Chopardchen Gelenklinie frei beweglich und zeigen im Seitenvergleich keine Unterschiede. Herr A.T. hat bezüglich der „selektiven“ Bewegung in die Pronation (Chopartsche Gelenklinie) beidseitig Defizite.
Die Kraftprüfungen der Skelettmuskeln an der unteren Extremität zeigen im Seitenvergleich keine positiven Befunde (alle Kraftwerte der getesteten Beinmuskulatur lagen im Bereich der vollen Kraft: 5/5).
Beachte: Da die definierten Krafttest die Muskeln in der „offenen Kette“ testen, entsprechen diese Krafttest nicht den funktionellen Bedingungen der „geschlossenen Muskelkette“.
Die Längentests bezüglich der ventralen und dorsalen
myofazialen Kette zeigen deutliche Elastizitätsdefizite im Bereich der Hamstrings und des M. Iliopsoas und M. rectus femoris (siehe Bild 3, 4, 5 und 6) sowie im Adduktorenbereich.
Bild 3 - Dehnfähigkeit der dorsalen myofazialen Kette links
Bild 4 - Dehnfähigkeit der dorsalen myofazialen Kette rechts
Bild 5 - Dehnfähigkeit der ventralen myofazialen Kette rechts
Bild 6 - Dehnfähigkeit der ventralen myofazialen Kette links
Der Rotationstest beider Hüften offenbart eine deutliche Einschränkung der Innenrotation (siehe Bild 7 und Bild 8)
Bild 7 -Hüftinnenrotation links
Bild 8 -Hüftinnenrotation rechts
Bewegungskontrolltests geben weiteren Aufschluss darüber, ob Defizite im Motor-Control-System vorliegen.
Bei folgenden Tests werden positive Befunde festgestellt:
4. Interpretation der Befunde
Die Laufgeschwindigkeit ist das Produkt aus Schrittlänge und Schrittfrequenz. Beide Parameter stehen in Abhängigkeit von der Elastizität der ventralen und dorsalen myofazialen Kette. Die entsprechenden Befunde von Herrn A.T. erklären die Defizite bzgl. der Hüftextension, die sich wiederrum auf die Schrittlänge auswirken.
Die im Seitenvergleich geringe Schrittlänge rechts (linkes Bein Abstoßphase – rechtes Bein Initial)
spricht für eine zeitlich reduzierte Standphase der linken unteren Extremität sowie für den planen Fußkontakt in der Initialkontaktphase des rechten Fußes. Die im Seitenvergleich verringerte Dehnbarkeit der Hamstrings der rechten unteren Extremität könnte zu der Seitendifferenz ebenfalls als Erklärungsgrund für die plane Fußauflage dienen.
Beachte: Mit Beginn der Endstand- bis zur Abroll- bzw. Abstoßphase sollte die abduktorische und innenrotatorische Muskelaktivität zunehmen, was sich auch in der entsprechenden Gelenkstellung der Hüfte sowie in der plantarflektorischen und pronatorischen Muskelaktivität des „Standfußes“ dokumentieren sollte. Diese Muskelsynergie führt zur optimalen Kraftübertragung von „der Großzehe bis zum Körperschwerpunkt (KSP)“.
Die Endstand- und Abstoßphasen von Herrn A.T. sind durch eine überwiegend adduktorisch- und außenrotatorische Gelenkstellung der Standphasen gekennzeichnet. Die Gründe dafür könnten in der mangelnden Innenrotation beider Hüftgelenke liegen sowie im hohen Bewegungstonus bzw. mangelnden exzentrischen Aktivität der Adduktoren. Die hohen Wiederholungszahlen der Schrittzyklen tragen sicherlich auch dazu bei, dass dieses kompensatorische Bewegungsmuster automatisiert abgerufen wird.
Die Umschaltphase in das für einen Läufer so wichtige extensorische, abduktorische und innenrotatiorische Bewegungsmuster wird dadurch verhindert.
Ein weiterer Schwachpunkt bei A.T. liegt in der mangelnden Fußaufrichtung. Die starke laterale Belastung des Calcaneus in der Initialkontaktphase bewirkt eine großes Eversionsdrehmoment innerhalb der unmittelbar sich anschließenden Stoßdämpferphase, welches muskulär inadäquat beantworte wird (Pes valgus, globale Pronation bzw. „Knickfußstellung“). Diese Fußstellung wird bis zur Abrollphase beibehalten und führt zu einer vermehrten Belastung des distalen Quergewölbes („durchgetretenes“ Quergewölbe - siehe Sichtbefund der Füße).
Die koordinativen Probleme in beiden geschlossenen Muskelketten zeigen sich insbesondere in der linken Stoßdämpferphase, innerhalb derer das Adduktionsdrehmoment muskulär inadäquat beantwortet wird (Absinken des Beckens). Die Auslenkungen des Rumpfes sowie die deutlich abduktorische Haltung des linken Schwungarmes können als Kompensationmechanismen verstanden werden um den „Mangel“ in der geschlossenen Mukelkette auszugleichen.
Ziele und Maßnahmen
Das erarbeitete Übungsprogramm für A.T. zielt auf die Aufarbeitung seiner Defizite ab, mit der Absicht seine Lauftechnik zu optimieren und ihm das Gefühl der „Schwere“ beim Laufen zu nehmen.
Die Vielzahl der Befunde erfordert zwar ein umfangreiches „Übungsprogramm“, dieses muss jedoch auf die Bedingungen eines „Hobbyläufers“ und seinen Trainingsalltag zugeschnitten werden. Ziel des Trainingsplanes ist mit relativ wenigen Übungen die Bandbreite der Befunde abzudecken.
Da die Qualität der Übungsausführung das entscheidende Kriterium für die Optimierung der Stand- und Schwungphasenmuster darstellt, müssen die Übungen mit voller Konzentration und in einem nicht erschöpften Zustand durchgeführt werden.
Weiterhin werden die Übungen ausnahmslos in der „geschlossenen Muskelkette“ durchgeführt um den Transferverlust zur Zielübung (Standphasen während des Laufens) so gering wie möglich zu halten.
5. Trainingsplan
Übung: „Bridging“
Mittels der Übungen im Bridging werden die Koaktivierungsprozesse von Muskelsynergien in der Standphase unter veränderten Schwerkraftbedingungen trainiert. Die Abnahme des Rumpfgewichts erlaubt die besondere Berücksichtigung der Fußaufrichtung, um optimale Voraussetzungen zu schaffen Abdruckkräfte auf den KSP zu übertragen.
Weiterhin sind die Übungen hervorragend dafür geeignet die motorischen Defizite segmentaler Instabilität in der LBH-Region aufzuarbeiten.
Wichtige Parameter der Übungsausführung sind:
Übungsdurchführung:
Die Muskelsynergien innerhalb des Koaktivierungsprozesses werden durch die Fußbelastung aktiviert. Sichtbare Zeichen dieser Aktivierung sind:
Übung 1a: „statisches“ Halten im Bridging
Unter Beachtung der vorgenannten Parameter wird das Becken in die Streckung bewegt und in der Position gehalten. Die Haltedauer richtet sich nach den Möglichkeiten des Übenden, das Bridging korrekt und ohne Ausweichmechanismen durchzuführen. (siehe Bild 9).
Im Falle von A.T. wurden 20 sec Haltedauer definiert.
Belastungsnormative:
3 Serien a 20 sec, Pause ½ Minute
Steigerung: Erhöhung der Haltedauer um 5 sec, bzw. Erhöhung der Serien um 1 Serie
Bild 9 - Wirkrichtung der Muskelketten im Bridging
Übung 1b: „dynamische“ Bridging
Das Becken wird kontrolliert nach oben und unten bewegt ohne das die Neutralzone (NZ) der Wirbelsäule (WS) verlassen wird. Die Wiederholungszahl richtet sich nach den Möglichkeiten des Übenden die Übung korrekt durchzuführen. (siehe Video 7 und Schlüsselposition 7/1).
Belastungsnormative:
3 Serien mit 12 Wiederholungen, Pause ½ Minute
Steigerung: Erhöhung der Wiederholungen um 2 Wiederholungen, bzw. Erhöhung der Serie um 1 Serie.
Übung 1c: „statisches“ einbeiniges Bridging
Aus der Position Übung 1a („statisches Bridging“) wird eine Bein in die Schrittphase bewegt, bis eine Hüft- und Knieflexion von jeweils 90° erreicht wird (offenen Kette). Dabei darf sich die NZ der WS sowie die achsengerechte Stellung der unteren Extremität nicht verändern (Beachte: kein Absinken des Beckens auf der Spielbeinseite). (siehe Video 8 und Schlüsselposition 8/1).
Belastungsnormative:
Haltedauer: 10 sec, Serien: 3, Pause: erfolgt durch Beinwechsel.
Steigerung: Haltedauer um jeweils 2 sec erhöhen, bzw. Serienzahl um 1 Serie erhöhen.
Übung 1d: „Dynamisches“ einbeiniges Bridging
Ausgangspunkt ist die Übung 1c. Aus dieser Position wird das Becken fortlaufend zur Unterlage und wieder in die Ausgangsstellung zurückgeführt. Die NZ der WS bleibt dabei unverändert.
Belastungsnormative:
Wiederholungszahl : 8, Serien: 3, Pause: erfolgt durch Beinwechsel
Steigerung: Erhöhungen der Wiederholungszahl um 1 Wiederholungen, bzw.
Erhöhung der Serie um 1 Serie.
Ausweichmechanismen:
Da die Qualität der Übungsdurchführung entscheidend für den Trainingseffekt ist, müssen die Übungen unter Anleitung und Kontrolle durchgeführt werden (Wahrnehmungsschulung).
Auf folgende Kompensationsmechanismen muss Herr A.T. mittels kinästhetischer Reizsetzungen aufmerksam gemacht werden:
Bild 10 - Ausweichmechanismen während des einbeinigen Bridgings
Übung 2: Seitstütz
Beim Seitstütz handelt es sich um eine asymmetrische Ausgangsstellung, in der die unten liegenden Extremitäten (Stützarm und Stützbein) jeweils ein punktum fixum aufbauen . Die oben liegenden Extremitäten liegen am Körper an. Die Wirbelsäule wird in der NZ stabilisiert . Übungen im Seitstütz stellen hohe Anforderungen an die globalen und lokalen Stabilisatoren der Becken-Rumpf-Region und integrieren insbesondere die Hüftabduktoren in der geschlossenen Muskelkette zu arbeiten.
Übung 2a: „statischer“ Seitstütz mit Knieflexion
Die beidbeinige Knieflexion (90°) vergrößert die Unterstützungsfläche des Körpers und erleichtert die Stabilisierung des Rumpfes. Nach Aufnahme des Stützes wird das Becken angehoben, die Wirbelsäule wird in die NZ ausgerichtet und danach stabilisiert (Bild 11).
Belastungsnormative:
Haltedauer: 15 sec, Pause: erfolgt durch Seitenwechsel, Serien: 3
Steigerung: Haltedauer um 3 sec erhöhen, bzw. die Serienzahl um eine Serie erhöhen
Bild 11 - Seitstütz statisch gehalten
Übung 2b: „dynamischer“ Seitstütz mit Knieflexion
Nach Einnahme des Seitstützes (siehe Übung 2a) wird das Becken fortlaufend zur Unterlage und wieder zurück in die Ausgangsstellung (ASTE) bewegt. (Video 9).
Belastungsnormative:
Wiederholungszahl: 8, Pause: erfolgt durch Seitenwechsel, Serien: 3
Steigerung: Steigerung der Wiederholungszahl um 2 Wiederholungen, bzw.
Erhöhung der Serienzahl um 1 Serie.
Übung 2c und Übung 2d:
„statischer“ und „dynamischer“ Seitstütz mit extendierten Beinen (Video 10).
Nach ca. 2 Wochen werden die Übungen 2a und 2b durch die Übungen 2c und 2d ersetzt.
Die Belastungsnormative bleiben die gleichen. Durch die Beinstreckung entstehen erhöhte Anforderungen an die posturale Kontrolle und das
Gleichgewicht. Innerhalb der geschlossenen Muskelkette werden die Anforderungen an die Hüftabduktoren vergrößert.
Ausweichmechanismen:
In der Position des Seitstützes kann die Stabilisierung der NZ nicht aufrechterhalten werden und die Übenden weichen i.S. einer Hyperlordose oder LWS-Kyphose aus. Weiterhin kann das Becken nicht in der Frontalebene gehalten werden und es beschreibt ein Rotation nach ventral oder dorsal.
Im Fall von A.T. kommt es bei der Übungsdurchführung zu dezenten Auslenkungen in die LWS-Kyphose mit begleitender konvexer Auslenkung der LWS zur oben liegenden Seite (Bild 12 und 13).
Bild 12 - Seitstütz mit großer Unterstützungsfläche (Kniebeugung)
Bild 13- Seitstütz mit kleiner Unterstützungsfläche
Übung 3: Bewegungsübergang Sitz – Stand
Diese einfach erscheinende Aufgabe erhält ihren Schwierigkeitsgrad durch
die besondere Berücksichtigung der Fußaufrichtung und der achsengerechten Positionierung des Oberschenkels bei der Übungsdurchführung . Bei exakter Ausführung spürt der Übende die hohe Belastung
der fußaufrichtenden Muskulatur und deren Trainingseffekt.
Endscheidend ist die exakte Positionierung des Calcaneus in der
Ausgangsstellung Sitz. Im Falle von A.T. sollen die beiden Tuber calcanei sowie die Metatarsenköpfchen I und V bewusst gespürt werden. Danach sollen von dem Übenden die Tuber calcanei laterale
und die Zehengrundgelenke bewusst belastet werden (spiralige statodynamische Verwringung des Fußes durch Inversion des Rückfußes und Pronation des Vorfußes).
Während des Aufstehens in den Stand darf sich die Fußbelastung nicht verändern. Die Knie werden achsengerecht ausgerichtet und sollen diese Position während dem aufstehen und hinsetzen nicht verändern. Die WS wird in der NZ stabilisiert (Video 11, Schlüsselposition 11/1).
Das Aufstehen und Hinsetzen wird so langsam durchgeführt, dass der Übende
jederzeit die Bewegung anhalten kann.
Belastungsnormative:
Wiederholungszahl: 10 Wiederholungen, Serien 3, Pause ½ Minute
Steigerung: Erhöhung der Wiederholungszahl um 2 Wiederholungen, bzw.
Erhöhung der Serien um 1 Serie
Ausweichmechanismen:
Übung 4: Einbeinkniestand
Der Einbeinkniestand ist eine sehr komplexe und funktionelle Übung, da sie in abstrahierter Form Muskelsynergien in der geschlossenen Muskelkette schult, die in der Doppelbelastungsphase des Gehens vorkommen. Die „Endstandphase“ des hinteren Beines fordert die Hüftextension, während die „Stoßdämpferphase“ des vorderen Beines zunehmend das Köpergewicht übernimmt.
Übung 4a: „statischer“ Einbeinkniestand
Die Kniebeugung des vorderen Beines beträgt 90° und die Fußeinstellung vollzieht sich in gleicher Form wie in Übung 3 (Sitz-Stand). Der Unterschenkel des hinteren Beines liegt achsengerecht auf dem Boden auf, der hintere Fuß findet sein p.f. auf dem distalen Quergewölbe. Der Oberkörper hält sich aufrecht im Raum (NZ der WS).
Der Übende stellt sich vor, seinen KSP nach vorne-oben anzuheben, so dass zunehmend Gewicht auf das vordere Bein verlagert wird. Das Anspannen der Ischiocruralen Muskelgruppe sowie des M. adduktor magnus sollte deutlich spürbar sein.
Gleichzeitig aktiviert der Übende seine Bauchmuskeln mit der Absicht sein Becken Richtung cranial zu ziehen. Mit der einhergehenden „Beckenumstellung“ muss der M. rectus femoris exzentrisch nachlassen (Dehnungsgefühl im ventralen Bereich des Oberschenkels) (Bild 14).
Belastungsnormative:
Haltedauer 15 sec, Serien: 3, Pause erfolgt durch den Standbeinwechsel
Steigerung: die Haltedauer wird jeweils um 5 sec erhöht, bzw. die Erhöhung der Serienzahl um jeweils eine Serie
Bild 14 - Einbeinkniestand statisch gehalten
Übung 4b: „dynamischer„ Einbeinkniestand (siehe Video 12)
Aufbauend auf die Übung 4a hebt und senkt der Übende seinen KSP nach vorne
oben (ca 15 bis 20 cm)
Belastungsnormative:
Wiederholungszahl: 5, Serien: 3, Pause erfolgt durch den Standbeinwechsel
Steigerung: Erhöhung der KSP-Hebung um jeweils ca. 5cm, Erhöhung der Wiederholungszahl um 2 Wiederholungen, bzw. Erhöhung der Serien um 1 Serie.
Ziel: aus dem Einbeinkniestand in den Stand ohne Ausweichmechanismen aufstehen.
Ausweichmechanismen:
Übung 5: Bauchlage mit abgestelltem Bein
Im Falle von A.T. liegt der Schwerpunkt bei dieser Übung in dem
exzentrischen Nachlassen der dorsalen myofazialen Kette. Die Funktionalität dieser Übung begründet sich dadurch, dass die Dehnung in der geschlossenen Muskelkette erfolgt.
Aus der Bauchlage auf der Behandlungsbank wird ein Bein auf den Boden abgestellt. Tuber Ischiadicum und der Calcaneus sollten sich in einer Linie befinden. Die Fußeinstellung erfolgt nach den Gesichtspunkten die in Übung 3 beschrieben wurden. Das Knie ist leicht gebeugt. Der Übende versucht nun sein Becken aus der „kyphotischen“ Stellung in Richtung „Lordose“ umzustellen, indem er das Tuber ischiadicum „ nach caudal-dorsal ausrichtet. Anfangs muss mit Hilfe kinästhetischer Reizsetzung durch den Therapeuten die Beckenumstellung fazilitiert werden um dem Übenden das entsprechende Wahrnehmungsgefühl für sein Becken zu vermitteln. Gelingt die „Beckenumstellung“ kommt es zu einer enormen Dehnung in den Teilen der myofazialen Kette in denen sich „Verkürzungen“ manifestiert haben. (siehe Bild 15)
Belastungsnormative:
„Dehnungsdauer“: 10 sec, 2 Serien, Pause erfolgt durch Beinwechsel
Steigerung: „Dehnungsdauer wird um jeweils 3 sec erhöht
Ausweichmechanismen:
Bild 15 - Dehnung der Beugergruppe in der geschlossenen Muskelkette
Übung 6: Abduktorentraining im Stand (siehe Video 13)
Um den Stand zu stabilisieren stützt sich der Übende mit beiden Händen an einem Türrahmen ab. Die WS wird in der NZ ausgerichtet. Aus dieser Position löst sich das Spielbein vom Boden und das Becken der Spielbeinseite beschreibt eine Bewegung nach caudal um danach wieder in die Ausgangsstellung angehoben zu werden ( siehe Video 13)
Belastungsnormative:
Wiederholungen: 10, 3 Serien, Pause erfolgt durch Beinwechsel
Steigerung: Erhöhung der Wiederholungszahl um jeweils 3 Wiederholungen,
bzw. Erhöhung der Serienzahl um eine Serie
Ausweichbewegungen:
Die Schwierigkeit der Übungen, die auf den ersten Blick „einfach erscheinen“, liegt in der Qualität der Übungsausführung.
Eine intensive Betreuung durch den Therapeuten in der „Einübungsphase“ ist daher unerlässlich, da die Wiederholungszahlen zu einem „Automatisierungsprozess“ der Bewegungsmuster führen.
Rückmeldung von Herrn A.T. nach 4 Wochen Training: